Die Geschichte der Plastiktüte

Von je her waren die Menschen von Plastiktüten fasziniert. Allerlei Geschichten ranken sich um dieses Thema. Wahre und falsch. Hier versuche ich nun, ein wenig Licht in das Dunkel zu tragen. Die dargelegten Fakten sind sorgfältig von mir recherchiert und nachgeprüft. Die erwähnten Personen sind mir - so sie noch leben - alle persönlich bekannt. Dennoch ist nicht auszuschließen, dass sich kleinere Irrtümer eingeschlichen haben. Man möge mir verzeihen.

Fast jeder Kulturkreis hat seinen eigenen Mythos über die Entstehung dieses nützlichen Einkaufshelfers. In Italien wird berichtet, die Plastiktüte sei der missglückte Versuch, eine besonders weiche und magenfreundliche Lasagneplatte herzustellen. In Großbritannien erzählt man sich, sparsame Schotten hätten sie erfunden auf der Suche nach einem wasserdichten - und daher wieder verwendbaren - Teebeutel. Aus der Schweiz hört man, die Plastiktüte sei eine Erfindung Schweizer Banken, die ihren Kunden einen neutralen, unauffälligen Transportbehälter für Bargeld anbieten wollten. Manchmal heißt es aber auch, sie sei von der NASA entwickelt worden als leichtes, strapazierfähiges Behältnis zum Sammeln und Transportieren von Mondgestein. Buzz Aldrin soll der erste Astronaut gewesen sein, der mittels einer solchen Tüte wissenschaftliche Proben zur Erde gebracht habe. Leider hüllt sich die NASA diesbezüglich in Schweigen. Aus dem Osten wird berichtet, die Plastiktüte sei aus der traditionellen Kopfbedeckung kaukasischer Trauzeuginnen hervorgegangen. Und der FBI-Agent Fox Moulder gibt vor, unwiderlegbare Beweise dafür zu haben, die ersten Plastiktüte sei im Juli 1947 in der Nähe der amerikanischen Kleinstadt Roswell, New Mexico, aufgetaucht. Deren erster Aufdruck soll kaum lesbar gewesen sein. Lediglich "Algol" glaubte man entziffern zu können. Daraus sei dann später das vertraute "ALDI" entstanden.

Tragisch ist auch die Geschichte des Baron de Sac, einem französischen Adligen und Hobbychemiker, der gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Paris lebte. Er hatte sein Laboratorium am Place de Tique, und daher wird oft behauptet, dass ihm zu Ehren die Tüte heute immer noch "Plastiktüte" genannt wird. Er wollte der Dame seines Herzens, der schönen Polyaethylenia, eine neuartige Handtasche zur Verlobung schenken. Diese sollte leicht, aber dennoch elegant sein. Sie sollte genügend Platz für die vielen kleinen Dinge bieten, die in eine Handtasche gehören. Sie sollte aber auch Platz sparend aufzubewahren sein, um möglichst viele Exemplare besitzen zu können.

In unzähligen Versuchen bemühte er sich, ein Material zu entwickeln, das seinen Anforderungen gerecht wurde. Nach Jahren vergeblicher Suche kam schließlich ein unerwartetes Ergebnis. Es war zwar nicht das erhoffte Material für Handtaschen, aber es ist ihm gelungen, aus Kupfersulfid, Coffein und gemahlenen Aprikosenkernen Gold herzustellen. Der Hochzeit stand nun nichts mehr im Wege. Auch ohne passende Handtasche. Seltsamerweise trug eine Cousine der Braut, die extra aus dem Kaukasus angereist kam, um Trauzeugin zu sein, einen Hut, der in etwa so aussah, wie der Baron sich seine Erfindung vorgestellt hatte.

Doch das Glück des jungen, und durch die Forschungen des Bräutigams nun reichen Paares, dauerte nicht lange. Schon kurze Zeit nach der Hochzeit mussten sie in den Wirren der Französischen Revolution aus Paris fliehen. Das Gold konnten sie leider nicht mitnehmen: Ihnen fehlte es an geeigneten Taschen.

Auch im Exil wollte der Baron seinen Traum von der neuen Handtasche nicht aufgeben. Vergeblich. Es sollte ihm nie gelingen. Als dann seine Gemahlin bei der Geburt ihrer Tochter im Kindbett starb, gelobte er: "Du meine teure Polyaethylenia. Es ist mit nicht gelungen, Dir eine neue Handtasche zu schenken. Aber ich werde nicht aufgeben. Eines Tages wird es eine Polyaethylenia nach Dir geben, die viele solcher Taschen besitzt. Bis zu diesem Tag sollen alle unsere weiblichen Nachkommen "Polyaethylenia" heißen."

Er war ein guter Vater. Sein ganzes Streben galt nun der Erziehung seiner Tochter - und seinen Forschungen. Seine Erziehung war erfolgreich: Polyaethylenia wuchs zu einer eleganten jungen Dame heran, die allseits beliebt und geschätzt war. Sie heiratete einen Teppichklopfervertreter aus Vorwerk bei Wismar, bekam zwölf Kinder (elf Buben und eine Polyaethylenia) und starb als siebenfache Groß- und doppelte Urgroßmutter. Seine Forschungen waren weniger erfolgreich: Die einzige Erfindung sollte der alkoholfreie Eierlikör sein. Ein wohlschmeckendes Getränk, das sich aber nicht durchsetzten konnte. Er verschluckte sich tödlich an einem übergroßen Aprikosenkern im Alter von vierundfünfzig Jahren.

Die wahre Geschichte der Plastiktüte begann 1958 in einer kleinen, verqualmten Studentenkneipe in Frankfurt, nachts um halb zwei. Die Musikbox spielte traurige Stücke von Tom Waits. Drei dunkle Gestalten saßen in der Ecke und tranken melancholisch ihr letztes Bier. Es waren zwei BWL-Studenten, die ihrer ständigen Begleiterin, einer Jura-Studentin im vierten Semester, von ihrer heutigen Marketingvorlesung berichteten.

Unsere Freunde hatten gerade gelernt, dass der Verkaufserfolg eines Produktes primär von dessen Verpackung, aber nicht von dessen Qualität abhängt. Angeregt durch das neu erworbene Wissen (und durch zuviel Alkohol) ließen sie sich zu der Aussage hinreißen: "Wenn man jeden Scheiß verkaufen kann, Hauptsache die Verpackung ist hübsch, dann können wir einen Haufen Geld damit verdienen, wenn wir den Scheiß weglassen und nur noch die Verpackung verkaufen." Dies war die Geburtsstunde der Plastiktüte.

Die Jurastudentin wies darauf hin, dass es ärger geben könnte, wenn die Leute das Gekaufte auspacken und feststellen, dass nichts drin ist. Man beschloß, die Packung auf einer Seite aufzulassen, damit jeder schon vor dem Kauf hinein sehen könne. Aufgrund eines Fabrikationsfehlers der ersten Auflage hatte die Verpackung an der offenen Seite zwei Risse. Diese erwiesen sich beim Transport als sehr praktisch und wurde sofort in die Serienproduktion übernommen. Das so entwickelte Design ist bis auf wenige Ausnahmen heute noch erkennbar.

Die Namen unsere drei Freunde dürfen aus steuerlichen Gründen nicht genannt werden. Nur eines sei verraten. Der ältere wurde wegen der durch seine Vorliebe für düstere Kneipen hellen Hautfarbe von allen "Blass" genannt. Der andere trug wegen des vielen Biers, das er in denselben Kneipen trank, seiner Figur angemessen den Namen "Dick". Die Jurastudentin hieß, einer langen und unverständlichen Familientradition folgend, Polyaethylenia. Sie trug ihre langen, dunklen Haare stets in einem Knäuel verdreht. Daher hieß sie nur "Dutt".

Die drei Erfinder wollten sich selbst ein Denkmal setzten. So tauften sie unbescheiden ihr Produkt: "Blass - Dick - Dutt". Im Laufe der Jahre geriet die Herkunft dieser Bezeichnung in Vergessenheit und man begann zu glauben, das Wort entstamme dem Hessischen. Und es wurde von gut meinenden Deutschlehrern verhochdeutscht: "Plastiktüte".

Der Rest ist Geschichte. Die ersten Probeexemplare wurden werbewirksam kostenlos an Supermarktkassen verteilt. Die Kundschaft war begeistert. Heute werden die Tüten in riesigen Mengen verkauft, das Stück zu mindestens 0,10 DM, eines Vielfachen des Herstellungspreises.

Die beiden BWL-Studenten haben ihr Studium abgebrochen und leben heute von den Einnahmen ihres Tütenimperiums in einer Villa in Frankfurt Rödelheim. Regelmäßig fahren sie mit neutralen, unauffälligen Transportbehältern in die Schweiz. Die Jurastudentin gebar eine Tochter, der sie aus Gründen, die ihr selbst nicht ganz klar waren, nicht den Namen Polyaethylenia gab. Die kleine, verqualmte Studentenkneipe in Frankfurt ist heute die Pizzeria mit Frankfurts bester Lasagne. Sie ist das Stammlokal von Heinz Schenk.

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